Relevanz
Heutzutage besteht kein Zweifel mehr darüber, dass Stress zu den bedeutendsten Gesundheitsrisiken zählt, mit denen Menschen in modernen (Leistungs-)Gesellschaften konfrontiert sind. Diese Gesellschaftsformen zeichnen sich durch eine ausgeprägte Betrachtung individueller Leistungsfähigkeit sowie eine von kapitalistischer Logik geprägten Steigerungslogik aus. Eine solche Interpretation des Leistungsbegriffs führt dazu, dass Leistungsdruck zunehmend in alle Lebensbereiche eindringt und bei vielen Menschen zu Stress führt. Diese Tendenz ist besonders in der Arbeitswelt ausgeprägt, breitet sich jedoch auch immer mehr auf den schulischen Bereich aus und betrifft dort bereits junge Menschen in hohem Masse (vgl. Kaluza 2018: 4; Marter 2021: 2-6; Raufelder & Hoferichter 2018: 13-19, 82-87; Röcke 2021: 80-85; Bröckling 2002: 177-180; Distelhorst 2014; 9-20; Rosa & Lessenich 2014: 59).
Durch die gesellschaftliche Aufgabe der Allokation findet in Schulen eine Selektion der jungen Generation entsprechend ihrer individuellen Leistungen auf verschiedene gesellschaftliche Positionen statt. Als Konsequenz werden schulische Leistungen von vielen Schüler:innen als äusserst bedeutsam eingestuft und können so Leistungsstress auslösen. Diese Stressbelastung kann bereits in jungen Jahren schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesundheit und die Zukunftschancen der Schüler:innen haben (vgl. Klafki 1991: 211-220; Streese 2022: 42-43; Breidenstein 2018: 308).
Diese gesellschaftlichen Strukturen rücken schulische Leistungserhebungen wie Tests oder Prüfungen in den Fokus der Stressentstehung. Prüfungsängste sind in der Folge eine der Hauptursachen für das Entstehen von Leistungsstress bei jungen Menschen (vgl. Stojanov 2015: 137-138; Klafki 1991: 211-220; Streese 2022: 42-43; Breidenstein 2018: 308; Siegert 2006: o.S.; Raufelder & Hoferichter 2018: 56; Hurrelmann 1990: 128).
Die Symptome von Prüfungsängsten sind sehr mannigfaltig und können sich wie folgt äussern:
1. Körperliche Symptome:
• Herzklopfen oder erhöhter Puls
• Schwitzen oder Schweißausbrüche
• Zittern oder Muskelverspannungen
• Magen-Darm-Beschwerden
• Atembeschwerden oder Kurzatmigkeit
• Schwindelgefühle oder Benommenheit
2. Emotionale Symptome:
• Angstgefühle oder Panikattacken
• Nervosität oder Unruhe
• Gefühl von Hilflosigkeit oder Ohnmacht
• Reizbarkeit oder Gereiztheit
• Gefühl von Hoffnungslosigkeit
3. Kognitive Symptome:
• Schwierigkeiten beim Konzentrieren
• Grübeln über negative Ereignisse
• Gedächtnisprobleme oder Blockaden
• Selbstzweifel
• Schwarze Gedanken über mögliche Konsequenzen des Versagens (vgl. Lohaus et al. 2017: 19; Frölich & Lehmkuhl 2023: 17-31; Raufelder & Hoferichter 2018: 82-87; Schulte-Markwort 2015: 11)
Da eine eindeutige Diagnose somit nicht einfach fällt, die Auswirkungen jedoch erheblich sind, ist es wichtig, dieses Thema im schulischen Rahmen zu behandeln.
Das Bilderbuch Finn und der Prüfungsdrache wurde für den Einsatz im Unterricht entwickelt. Dieses sowie die dazugehörigen Unterrichtssequenzen sollen dazu beitragen, dass Schüler:innen, Pädagog:innen, aber auch Erziehungsberechtigte, eine Sensibilisierung mit vorherrschenden Leistungsdynamiken erfahren. Auf diese Weise können Prüfungsängste präventiv wie auch reaktiv pädagogisch aufgegriffen werden.
Im Rahmen dieser Internetpräsenz soll das Buch ansprechend und zeitgemäss in digitaler Form für die Anwendung in der Schule und darüber hinaus zur Verfügung stehen.
Die Moderne ist der unaufhörliche Versuch, die Kluft zwischen gelebten Wirklichkeiten und erträumten
Möglichkeiten zu überwinden. Ihre Geschichte nimmt sich aus wie ein gigantisches ‚Guinessbuch
der Rekorde‘. Immer schneller, immer weiter, immer mehr – so lautet die Devise in
allen Lebensbereichen.“– Gross
Da ist die Rede nicht nur vom Stress am Arbeitsplatz, sondern auch vom Stress in der Schule
und sogar im Kindergarten. Es gibt Leistungs-, Beziehungs- und sogar Freizeitstress bis hin zum
Stress im Krankenhaus, im [Strassenverkehr] und selbst im Urlaub. […] Stress – so scheint es –
beherrscht unser Leben.“– Kaluza
Die Berichte der Kinder und Jugendlichen sind anrührend, weil man spürt, wie sehr alle Kinder
darum bemüht sind, niemandem zur Last zu fallen. Auch sie wollen nur ihren ‚Job‘ machen, und
zwar so gut wie möglich. Der Preis: ein Gefühl der Überlastung, Anspannung und Erschöpfung.
Das zentrale Lebensgefühl unserer Kids ist dadurch gekennzeichnet, dass sie damit leben müssen,
nie wirklich allen Anforderungen gerecht zu werden.“– Schulte-Markwort
Prüfungsangst kann in Vorbereitung auf die Prüfungssituation oder in der Prüfungssituation
selbst auftreten, wird als störend und unangenehm empfunden und schränkt das Individuum ein,
sein volles Potenzial zu nutzen. Prüfungsängstlichkeit beschreibt die generelle Neigung, Angst in
Leistungssituationen zu empfinden und als selbstbedrohlich wahrzunehmen.“– Raufelder & Hoferichter
[Man] kann […] die Augen nicht davor verschliessen, dass die alles durchdringende leistungsorientierte
Ökonomisierung unserer Gesellschaft Strukturen, Werte und Prozesse produziert, die –
wenn es so weitergeht – zu einem signifikanten Prozentsatz Kinder und Jugendliche ins Abseits
stellt. Kinder, die nicht mithalten können. Obwohl sie das intellektuelle Potenzial dazu hätten. Und
auch das emotionale.“– Schulte-Markwort
• Breidenstein, Georg (2018). Das Theorem der ‚Selektionsfunktion der Schule‘ und die Praxis der Leistungsbewertung. In: Reh, Sabine; Ricken, Norbert [Hrsg.]: Leistung als Paradigma. Zur Entstehung und Transformation eines pädagogischen Konzepts. Wiesbaden: Springer VS. S. 307-328.
• Bröckling, Ulrich (2002). Das unternehmerische Selbst und seine Geschlechter: Gender-Konstruktionen in Erfolgsratgebern. LeviathanVol. 30, No. 2, Juni 2002.
• Distelhorst, Lars (2014). Leistung. Das Endstadium der Ideologie. Bielefeld: transcript.
• Frölich, Jan; Lehmkuhl, Gerd (2023). Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen. Risiken und Chancen. Stuttgart: Schattauer.
• Hurrelmann, Klaus (1990). Familienstreß Schulstreß Freizeitstreß. Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche. Weinheim Basel: Beltz.
• Kaluza, Gert (2018). Gelassen und sicher im Stress: das Stresskompetenz-Buch: Stress erkennen, verstehen, bewältigen (7. Aufl.). Berlin: Springer.
• Klafki, Wolfgang (1991). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik (2. Aufl.). Weinheim Basel: Beltz.
• Lohaus, Arnold; Fridrici, Mirko; Domsch, Holger (2017). Jugendliche im Stress: Was Eltern wissen sollten (1. Aufl.). Berlin & Heidelberg: Springer.
• Marter, Kathrin (2021). Du bist, was dich stresst! Tabula Rasa für chronisch Gestresste im digitalen Zeitalter. Wiesbaden: Springer.
• Raufelder, Diana; Hoferichter, Frances (2018). Prüfungsangst und Stress. Ursachen, Wirkung und Hilfe. Stuttgart: Kohlhammer.
• Röcke, Anja (2021). Soziologie der Selbstoptimierung (1. Aufl.). Berlin: Suhrkamp.
• Rosa, Hartmut; Lessenich, Stephan (2014). Weil Kapitalismus sich ändern muss: Im Gespräch mit Hartmut Rosa und Stephan Lessenich. In: Rosa, Hartmut; Lessenich, Stephan; Kennedy, Margrit; Waigel, Theo [Hrsg.]: Weil Kapitalismus sich ändern muss. Wiesbaden: Springer VS. S. 21-66.
• Schulte-Markwort, Michael (2015). BURNOUT-KIDS. Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert. München: Pattloch.
• Siegert, Juliane (2006). Leistungsprinzip und soziale Positionierung behinderter Menschen. Magisterarbeit, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. bidok. [http://bidok.uibk.ac.at/library/siegert-leistung-dipl.html; 16.07.2023].
• Stojanov, Krassimir (2015). Leistung im Diskurs über Bildungsgerechtigkeit. In: Schäfer, Alfred; Thompson, Christiane [Hrsg.]: Leistung. Paderborn: Ferdinand Schöningh. S. 135-150.
• Streese, Bettina (2022). Leistung in der inklusiven Schule. Grundlagen, Spannungsfelder, Perspektiven. In: Beutel, Silvia-Iris; Bohl, Thorsten; Bräu, Karin; Feindt, Andreas; Häcker, Andreas; Wischer, Beate [Hrsg.]: Leistung: ermöglichen & beurteilen. Friedrich Jahresheft 40. S. 42-46.
